In seinem Buch untersucht der Soziologe Robert Pfaller, wie sich die Politik auf Nebenschauplätze begibt – anstatt zu versuchen, die soziale Schere zu verkleinern.
Er konstatiert eine Infantilisierung, weil erwachsene Menschen sich immer mehr vom freien Diskurs verabschieden und Rede- und Denkeinschränkungen verinnerlichen. Sie unterlägen dabei dem Irrtum, dass Worte selbst Taten wären und damit auch Wirklichkeit verändern könnten. Die Identifizierung immer neuer kultureller Gruppen sozial Benachteiligter führe vor allem zu deren Verwaltung durch Beauftragte. Diese Beauftragen seien daran interessiert, dass die Benachteiligung nicht völlig verschwände, da sie dadurch überflüssig würden. Das führe auch dazu, dass immer neue benachteiligte Gruppen identifiziert würden. Diversität ersetze Gleichheit. „Bestrebungen nach Gleichheit werden auf unbedeutendere … Problemfelder abgelenkt, und berechtigte Empörung wird durch peinlich genaue Sprachregelungen entweder stumm oder kleinlaut gehalten.“ Auch die Benachteiligten hätten in der Regel nichts durch diese Politik, weil sie durch die Politik der Ungleichheit massiver geschädigt würden, als es Diversitätspolitik wiedergutmachen könne.
In der Analyse Pfallers ist es ein Fehler der linken Parteien, sich auf kulturelle Veränderungen zu konzentrieren, wodurch rechtspopulistische Parteien die Stimmen derjenigen einfangen, die nicht mehr bereit sind, der Politik beim Abarbeiten von Scheinproblemen zu assistieren. Scheinbar fortschrittliche Gruppen mit scheinbar fortschrittlichen Zielen würden auf diese Weise mithelfen, antifortschrittliche Wirkungen hervorzurufen – die Zerstörung des öffentlichen Raums, das Blockieren demokratischer Diskussion. Political Correctness und Diversity seien Masken der neoliberalen Umverteilung nach oben.
Pfaller illustriert seine Thesen mit Beispielen aus dem Alltag in Universitäten, aber auch aus der Außenpolitik. So verweist er darauf, dass die USA zu einer Zeit, als sie eine Reihe von Kriegen führen, gleichzeitig die westliche Welt mit antirassistischer Propaganda überzögen. Das erscheint dem Rezensenten etwas zu weit hergeholt; die Gesellschaft als komplexes adaptives System ist kaum so einfach steuerbar. Lesenswert ist Pfallers Buch aber auf jeden Fall. Auch wegen des von ihm definierten entscheidenden politischen Problems der nähren Zukunft, ob die Verzweifelung der verarmenden Bevölkerungsteile einen anderen Ausdruck als jenen der Wahl rechtspopulistischer Parteien finden könne.
Siehe auch: Im Plattenbau wird gegendert
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