Der Begriff Potjomkinsches Dorf ist zum Synonym geworden für alles, bei dem Schein und Sein differieren. Schöne trügerische Fassade, aber nix dahinter. Oh, those Russians?
Die Legende: Der russische Gouverneur Potjomkin (oder Potemkin, kyrillisch Потёмкин ) hat für eine Inspektionsreise der Kaiserin Katharina der Großen entlang der Wegstrecke bemalte Kulissen aufgestellt, um, äh, blühende Landschaften vorzutäuschen.
Die Wahrheit: Potjomkin war einer der besten russischen Politiker seiner Zeit, Katharina auch als Liebhaber verbunden und der Stratege hinter der Erschließung als Neurussland bezeichneter Gebiete, die das Zarenreich nach dem russisch-türkischen Krieg (1768-1774) zugesprochen bekommen hatte. Die Inspektionsreise gab es tatsächlich (1787). Sie fand aber Gebäude vor, die solide bis großartig waren. Der Erfolg Potjomkins bewirkte Neid und Geschwätz bei Hofe. Einiges davon kam Georg von Helbig zu Ohren, sächsischer Diplomat in St. Petersburg. Er verwandte es für seine mehrteilige Potjomkin-Biografie, die ab 1797 die Hamburger Zeitschrift Minerva veröffentlichte. Die sensationelle Neuigkeit von den Scheinfassaden schien auch deshalb plausibel, weil Katharina II. ohnehin schon allerlei Unmoralisches (und meist Unzutreffendes) über ihr Liebesleben nachgesagt wurde. Die Geschichte geriet in Umlauf, wurde ins Französische und Englische übersetzt und überall gern geglaubt. In Frankreich, weil die französischen Revolutionäre dem Adel natürlich ohnehin vor allem Schlechtes zutrauten – und auch andernorts war es amüsanter, über Russland die Nase zu rümpfen statt anzuerkennen, dass das Land zu einer Großmacht geworden war.
Die Moral: Fake-News gab es schon deutlich vor der Erfindung des Internets. Viel blinkender ist das postfaktische Zeitalter heutzutage aber schon.
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