Bild zeigt CoverWas hält eine Gesellschaft zusammen? Menschen mit Anstand und Zivilcourage. Jana Simon hat sechs Jahre lange Mitbürger in deren Alltag begleitet: Unter Druck. Wie Deutschland sich verändert.

Die Porträts beginnen 2013 und enden 2019. Ein Nachwort schlägt mit Zitaten und Analyseversuchen die Brücke in die Corona-Zeit. Die Protagonisten treten mit Klarnamen auf, wie der Staatssekretär und Finanzer Jörg Asmussen, der AFD-Gründer Alexander Gauland, ein Kripo-Mann. Oder sie verbergen sich zum Schutz der Privatheit hinter einem Alias, wie ein Ingenieur aus der Auto-Branche und seine Frau, studierte Ergotherapeutin. Außerdem im Buch: eine polnischstämmige Krankenschwester, eine Mode-Unternehmerin.

Funktionieren unter Druck
Jörg, Alexander, Thomas, Božena, Lisa, Jörn und Katrin. Unterschiedliche Milieus, soziale Schichten, Generationen. Gemein ist ihnen das Gefühl von Druck und der Versuch,  in einer unübersichtlichen, sich schnell verändernden Lage Anstand zu bewahren und das Richtige zu tun. NSU-Morde, Griechenland-Krise, AfD-Gründung, Syrien-Krieg, Diesel-Gate, Flüchtlingsdrama, Ukraine-Konflikt sind die Stichworte des Wandels.

Die Autorin begleitet ihre Protagonisten durch die Mühen des Alltags in Beruf und Familie, durch Knackpunkte und zu den Höhen. Nebenher zeichnet sie mit leichter Hand die Seelenlandschaft deutscher Befindlichkeiten. Und ermöglicht Blicke durch den Vorhang fremder Leben. Die Pflegerin berichtet von Kollegen, die mit Löffeln gegen die Köpfe der Dementen klopfen. Da wäre eh nichts drin. Der Auto-Mann verzweifelt am Druck in einem Konzern, in dem es keine Schwächen geben darf: “Und Probleme heißen Herausforderungen. Du wirst optimiert wie ein Mastschwein.” Der Polizist soll die Ordnung aufrechthalten in einem Thüringen, im dem gerade Lebensentwürfe, Autoritäten, Biografien implodieren. Burnouts gibt es aber auch in Baden-Württemberg, während den Nachbarn im Ort der Wohlstand scheinbar spielend gelingt. Der Finanzexperte rettet Griechenland oder zumindest Banken. Die Mode-Bloggerin nippt an ihrer Gurkenlimo und denkt darüber nach, ein Kind zu haben mit diesem tollen Mann. Der hoffentlich nicht von ihr erwartet, dass sie zu ihm nach New York zieht.

Simon begegnet den von ihr Porträtierten offen und mit Empathie. Auch Gauland wird nicht denunziert, auch wenn dessen Positionen ihr nicht behagen und sie fürchtet, seinen Argumenten zu viel Raum zu bieten: “Ist tatsächlich ein Ende für ein Gespräch erreicht? Aber was entsteht danach in der Sprachlosigkeit, in der Stille?” Die Antwort gibt sie gut 70 Seiten weiter selbst mit den zwei letzten Sätzen des Buchs: “Zwei Blasen, die doch völlig fern voneinander existieren. Berührungspunkte gibt es nicht.”

Simon ist die Enkeltochter von Christa und Gerhard Wolf. Vor allem aber eine hervorragende Reporterin. Leise, akribische Bücher wie das ihre tragen dazu bei, dass die Blasen nicht schon Hornhaut haben.

Das Buch ist bei Fischer-Taschenbuch erschienen, hat 352 Seiten und kostet 12 Euro. Über den Link im vorigen Satz gelangen Sie auch zu einer Leseprobe.

 

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