Bild zeigt BuchcoverWieviel Staat ist notwendig, damit Gesellschaften prosperieren? “Der ewige Kampf zwischen Staat und Gesellschaft”, so der Untertitel, sucht nach der richtigen Balance.

Das Cover zitiert gleich vier Nobelpreis- und einen Pulitzerpreisträger, die das Buch der US-Wissenschaftler in hohen Tönen loben. “In diesen Zeiten kann es kein wichtigeres Buch geben”, meint George Akerlof, 2001 Träger des Wirtschaftsnobelpreises.

Diese Zeiten – das sind auch Bürgerkriege, scheiternde Staaten, religiöse Intoleranz, Diktaturen. Acemoglu und Robinson begeben sich auf die Suche nach Rahmenbedingungen, unter denen Wohlstand, Sicherheit und Freiheit entstehen. Sie streifen dabei durch die Jahrhunderte und über die Kontinente und gelangen zum Schluss: Ein starker Staat und eine starke Gesellschaft bedingen einander.

Für den Begriff des Staats greifen sie auf den Philophen Hobbes zurück. Hobbes diagnostizierte im 17. Jahrhundert einen Naturzustand der Gesellschaft, in dem ein Krieg aller gegen alle tobt. Weil der Mensch dem Menschen ein Wolf sei, müsse er durch eine mächtige Instanz im Zaum gehalten werden. Hobbes prägte dafür den Begriff Leviathan, in der Bibel ein Seeungeheuer.

Acemoglu und Robinson übernehmen den Begriff und präzisieren ihn. Sie definieren als Ideal einen Gefesselten Leviathan, wo ein starker Staat und eine starke Gesellschaft miteinander im Gleichgewicht sind. Sind Staat und Eliten mächtiger als die Gesellschaft, sehen sie einen Despotischen Leviathan, den sie zum Beispiel in China verorten. Beim Abwesenden Leviathan verhindert eine starke Gesellschaft mit ihren Normen die Herausbildung starker staatlicher Strukturen. Die Autoren nennen den Libanon als Beispiel. Beim Papiernen Leviathan gibt es einen Staat, der schwach ist und seinen Aufgaben nur rudimentär nachkommen kann, wie in vielen afrikanischen Ländern oder in Argentinien zu Beginn der 200oer Jahre.

In ständiger Bewegung
Neben dem Leviathan zieht sich auch der Rote-Königin-Effekt durchs gesamte Buch. Er bezieht sich auf Lewis Carrolls “Alice im Spiegelland”. Alice liefert sich darin ein Wettrennen mit der Roten Königin und stellt fest, dass sie sich trotz schnellem Lauf immer noch am selben Fleck befinden. Was die Rote Königin dann so erklärt: “Hier dagegen musst du aus Leibenskräften rennen, wenn du am selben Ort bleiben willst.” Laut Acemoglu und Robinson müssten sich Gesellschaft und Staat ebenfalls ständig bewegen. Falle die Gesellschaft zurück, könne sich der Gefesselte rasch in einen Despotischen Leviathan verwandeln.

Das antike Athen, Stammesgesellschaften in Afrika, polynesische Inseln, die Stadtstaaten Italiens, das England der Magna Carta, Nazi-Deutschland – die Autoren bringen den Leviathan und die Rote Königin in unterschiedlichsten Zusammenhängen zueinander.

Ein Beispiel aus jüngerer Zeit ist bei Acemoglu/Robinson die Entwicklung Georgiens nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Nach einem Abwesenden Staat gelang es Schewardnadse demnach auch dadurch, sich zehn Jahre als Staatsratsvorsitzender und dann Präsident an der Macht zu halten, weil er die Beteiligung der Gesellschaft an politischen und ökonomischen Entscheidungen ausschaltete und den Staat zu einem Despotischen Leviathan ausbaute. Unternehmen wurden an Günstlinge privatisiert. “Während der größte Teil der Bevölkerung mit regelmäßigen Stromausfällen zu kämpfen hatte, verkauften zwei Unternehmen im Besitz von Familienmitgliedern des Präsidenten unter der Hand Strom, was ihnen den stolzen Gewinn von 30 Millionen Dollar einbrachte.” Für Autos sei ein bestimmter Typ Feuerlöscher vorgeschrieben worden, der ausschließlich von einem Verwandten des Innenministers importiert worden sei.

Es ist die Fülle solcher Beispiele an unterschiedlichen Orten und zu verschiedenen Zeiten, die das Buch zur Fundgrube machen. Ein Patentrezept für die Einhaltung des Gleichgewichts haben auch die Autoren nicht. Schutz der Bürgerrechte, Schutz des Individuums, transparente Darstellung der Reaktion des Staates auf Bedrohungen: “Wie neue Technologien angewendet werden und ob sie das Kräftegleichgewicht beeinträchtigen, hängt nicht von Schicksal, sondern von unseren Entscheidungen ab.”

Die bildhafte Sprache wirkt manchmal bemüht originell. Sie hilft aber dabei, beim Springen durch die Zeiten und Weiten den Anschluss zu halten. Ein Buch für lange Winterabende. Und eine Anregung, im Buchregal nach “Alice” zu suchen. “Und wenn du woandershin willst, musst du doppelt so schnell rennen.” Eine Erfahrung, die viele Ostdeutsche teilen dürften.

Das Buch ist im Verlag S. Fischer erschienen, hat 768 Seiten und kostet 28,80.

 

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