Der Tag der Deutschen Einheit naht mit ganz großen Schritten. Wolle mer ihn reinlasse?
Anfang der 90er Jahre meldeten sich bei vielen Ostdeutschen plötzlich Bekannte, die ihnen vor Jahren aus dem Blickfeld geraten waren. Wenn sie dann zu Besuch kamen, fingen sie an, von dieser tollen Sache zu erzählen, die sie entdeckt hätten. Und so viel günstiger durch den Direktvertrieb! Die eine Hälfte von Neufünfland hockte bei der anderen auf dem Sofa, packte Pröbchen aus oder Versicherungsverträge und wollte verkaufen. Denn nicht nur ein Land war plötzlich und unerwartet verschieden. Tot waren auch Berufsabschlüsse, Arbeitsplätze und Gewissheiten. “Raider heißt jetzt Twix. Sonst ändert sich nix”, das galt nur für den Schwarzwald. Während sich im Erzgebirge statt nix fast alles geändert hat.
Im Osten ist es seitdem vorangegangen, nicht nur bei der Versicherungsdichte. Manchmal mit Hilfe, manchmal trotz des Westens. Vor allem aber deshalb, weil die Ostdeutschen sich selbst berappelt haben. Manche waren verzweifelt über den Verlust ihres geliebten Berufs und erfanden sich dann doch neu. Manche waren beglückt, dass sie endlich den Beruf ergreifen konnten, den sie wollten. Manche mussten sich durch Arbeitslosigkeit, ABM und Fortbildungen bis zur Rente durchschlagen. Und natürlich hat immer irgendwo ein Junge ein Mädchen geliebt.
Die Ostdeutschen waren nach dem Weltkrieg zur Unmündigkeit verdammt. Sie haben sich daraus selbst befreit und am eigenen Zopf aus dem Sumpf gezogen. Sie haben Grund zum Feiern. Dass ihre Biografien immer noch unter Verdacht stehen, dass viele Renten gering sind, dass 77 Prozent der Chefs in Ostdeutschland aus dem Westen stammen – das allerdings sitzt auf der Sahnetorte zur Feier der Einheit wie fette schwarze Spinnen.
Die Staatsmacht, die sich selbst abschaffte
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