Heute vor 65 Jahren protestierten Ostdeutsche gegen Lohnsenkungen und verlangten freie Wahlen. Sowjetische Panzer beendeten das Aufbegehren. Britische Forscher spielen den Tag auf Twitter mit fiktiven Teilnehmern nach.
Was war los?
Es begann mit Streiks und Demonstrationen gegen von der SED beschlossene Erhöhungen bei der Arbeitsnorm, die real Lohnsenkungen waren. Weitere Gründe für die Proteste waren Versorgungsengpässe und die allgegenwärtige politische Bevormundung. Auch nachdem die SED die Normerhöhungen zurückgenommen hatte, gingen die Streiks und Demonstrationen weiter. Zunächst wurden sie auch von westlichen Rundfunksendern befeuert – am 16. Juni berichtete der unter amerikanischer Kontrolle stehende Sender RIAS im Halbstundentakt über die Ereignisse. Bis dem amerikanischen Kontrolloffizier die Sache zu nahe am 3. Weltkrieg schien und der Sender damit aufhörte, die Streikaufrufe zu verbreiten. Als der Sowjetunion klar wurde, dass SED und Kasernierte Volkspolizei die Demonstrationen nicht beenden konnten, rief sie den Ausnahmezustand und das Kriegsrecht aus.
Wie viele waren beteiligt?
Insgesamt erfassten die Aktionen 700 Orte. Die Angaben über die Zahl der Demonstranten schwanken zwischen 500.000 und einer Million. Ein Teil davon beteiligte sich auch am Sturm auf Gefängnisse, Polizeireviere und Verwaltungen. Die Auseinandersetzungen forderten mindestens 55 Todesopfer, darunter 7 durch spätere Todesurteile. Unter den Toten waren auch 5 Angehörige von Sicherheitsorganen. Über 10.000 Menschen wurden festgenommen, etwa 1 600 zu Gefängnisstrafen verurteilt.
Volksaufstand oder Konterrevolution?
Die Sichtweisen auf den Tag waren polarisiert: Der Westen sprach von einem Arbeiteraufstand oder Volksaufstand, schon im Juli 1953 kürte die Bundesregierung den 17. Juni zum “Tag der deutschen Einheit” und gesetzlichen Feiertag. Auch das aktuelle britische Twitter-Projekt fokussiert sich auf diese Sichtweise.
Für die DDR-Regierung war der 17. Juni ein konterrevolutionärer Putschversuch, der von westlichen Provokateuren angezettelt worden war. Für eine Beteiligung westlicher Geheimdienste gibt es allerdings keine Belege. Der Westen dürfte analog zu 1989/90 von den Geschehnissen ebenso überrascht gewesen sein wie die DDR-Führung. Hinzu kam die international unübersichtliche Situation: Im März war Stalin gestorben, der Korea-Krieg mit seinen Millionen Toten stand kurz vor einem Waffenstillstand.
Das Eintreten Westdeutschlands für die deutsche Einheit war außerdem nahe zum Lippenbekenntnis: Noch 1952 hatte Adenauer ablehnend auf die Stalin-Noten mit Vorschlägen für ein einiges, aber neutrales Deutschland mit freien Wahlen reagiert. „Lieber das halbe Deutschland ganz als das ganze Deutschland halb“ – ob er diese Worte je gesprochen oder geschrieben hat, bleibt unklar, aber sie beschreiben zutreffend die Position des sich herausbildenden westlichen Bündnisses. Seitdem waren die “Sowjetzone” und die “DDR” (nur echt mit Gänsefüßchen) vielen Politikern der Bundesrepublik in etwa so nahe wie Sibirien.
Dass in der DDR der 17. Juni nicht zu einem einigenden Oppositionsmythos werden konnte, hat auch mit dessen Makeln zu tun: In Rathenow wurde ein Betriebsschutzleiter durch einen entmenschten Mob zu Tode geprügelt, unter den Losungen der Demonstranten waren “Abzug der Russen”,”Nieder mit der deutsch-sowjetischen Freundschaft”, “Wir wollen nicht nur haben Brot, sondern wir schlagen alle Russen tot” – acht Jahre nach Kriegsende war der Nationalsozialismus beim Kampf gegen die “Russenknechte” der SED offenbar noch sehr präsent.
Der friedliche Umschwung von 1989/90 ist vielleicht auch eine Lehre des Scheiterns von 1953: keine Gewalt.
Volksaufstand live (britisches Projekt auf Twitter)
Chronik der Ereignisse (Bundeszentrale für politische Bildung)
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