Das vielleicht umfassendste Museum des DDR-Designs steht im 40.000-Einwohner-Städtchen Culver City, einem Vorort von Los Angeles. Zusammen mit dem Verlag Taschen hat das dortige Wende-Museum eine Auswahl seiner Schätze und Schätzchen in einem opulenten Bildband untergebracht: “Beyond the Wall / Jenseits der Mauer”.
“Bewahren, inspirieren, ausstellen”, so beschreibt das Wende-Museum seine Mission. Es sammelt Gegenstände aus dem alten Ostblockund will damit zum Verständnis von Kunst, Kultur und Geschichte beitragen. Der gemeinsam mit dem Taschen-Verlag produzierte Bildband zeigt auf 900 Seiten 2 500 Objekte aus der DDR – vom Wandgemälde bis zur Tasse. Anhand der Abbildungen erzählt das Buch auf Deutsch und Englisch die Geschichte des DDR-Designs und -Bilderalltags.
Was Gustav Vosch wohl davon hielte, dass er jetzt Bestandteil der Zeitgeschichte ist mit seiner Verdienstmedaille der Deutschen Reichsbahn und der im Brigadetagebuch gewürdigten Mithilfe “beim Aufbau eines stabilen sozialistischen Verkehrswesens”? Kollege Vosch wirkt auf dem Foto sympathisch und grundehrlich. Vielleicht wäre er stolz. Oder würde er sich eher vorgeführt fühlen und aus der Privatheit und dem Zusammenhang gerissen?
Falls das Buch die Frage von Bild- oder Urheberrechten thematisiert, habe ich die Stelle überlesen. Die Einleitung des Museumsgründers und -direktors Justinian Jampol umreißt zwar die Entstehungsgeschichte seiner Sammlung und deren Anspruch, lässt aber im Vagen, wie genau es die Gegenstände in die USA geschafft haben. Mir kam dabei der alte Radio-Jerewan-Witz in den Sinn: “Stimmt es, dass die USA kommunistisch werden?” “Im Prinzip schon. Aber ob die DDR zwei Großmächte ernähren kann?” Das DDR-Design jedenfalls scheint auch im kalorienbewussten Kalifornien zu munden.
Eine gesammelte Gesellschaft
Gegliedert ist das Buch in die Rubriken
- Essen, Trinken & Rauchen,
- Zuhause,
- Design & Mode,
- Unterhaltung & Erholung,
- Reise & Verkehrswesen,
- Arbeit & Bildung,
- Politik,
- Gegenkultur & Bildersturm.
Sie werden von Texten eingeleitet, in denen Wissenschaftler einen Zusammenhang zwischen Alltag und Politik herstellen – sachlich und erfreulich unideologisch. Und dann folgen die Bilder, meist mit kurzer, manchmal längerer Erklärung. Das Tagesprogramm des MS “Völkerfreundschaft”, Lottowerbung, Kinoplakate, Wartburg-Datenhefte, ein Jugendweihe-Bericht, ein Schulaufsatz samt Berichtigung, Kaffeekannen, Bierdeckel, Kofferradios, Schreibmaschinen, Uhren, Sessel, Cola Colette (stimmt, gab’s, ganz vergessen), Cherry-Brandy, Ansichtskarten, Eierbecher, Wandteppiche, Gedenkwimpel, Trainingsanzüge, Kameras, Kinder-Bohrmaschine, Plattenhüllen, der Palast der Republik, Das Magazin, Sibylle, Milwa, Fewa, Imi, Spee … Der Betrachter liest, staunt, freut sich. Natürlich hat auch die Fülle Lücken – meine Frau und Gefährtin hatte auf mehr Beispiele aus der industriellen Formgestaltung der Burg Giebichenstein gehofft, ich habe das Mosaik vermisst. Oder habe ich es nur noch nicht entdeckt? Bei manchen Abbildungen weist ein Zeichen darauf hin, dass über eine kostenlose App weiteres Material zugänglich wird, zum Beispiel Bewegtbilder von Schmalfilmkameras.
Ab in die Sünde, auf nach Warnemünde?
Manchmal haben sich naseweise Sätze eingeschlichen, zum Beispiel beim unter Urlaub eingeordneten FKK: “Wie andere Ostblockstaaten auch war die DDR in Sachen Erotik etwas schamhaft und prüde, wobei FKK noch dazu als Erinnerung an die Nacktkultur der Nazizeit galt. Nach einiger Zeit setzte sich jedoch die Freikörperkultur als beliebte Freizeitaktivität durch.” Das liest sich so, als hätte man sich zum FKK statt zum Baden getroffen. Bei Unterhaltung und Erholung steht ein oberflächlicher und hechelnder Abschnitt Erotika. Er setzt nicht etwa die Fotos eines Günter Rössler zu denen eines Helmut Newton in Beziehung. Stattdessen geht es auch hier um FKK, um die Einwilligung “der Regierung” in Amateurpornografie und um von den Grenztruppen “und anderen Regierungsvertretern” in Auftrag gegebene “Nacktfotos und Schmuddelfilme”: Sexy Grenztruppen. Vielleicht liest hier ja ein Unteroffizier oder Obermaat mit, der sich erinnert und kommentieren mag.
Ebenfalls nicht ganz stimmig: Zur Wendezeit sind irritierenderweise ohne Erklärung West- und Ostmedien vermischt, so dass die NBI plötzlich zwischen Spiegel und Titanic steht.
Alles in allem: ein tolles Buch. Der stolze, aber angemessene Preis von 100 Euro ist bisher auch antiquarisch kaum günstiger. Mittlerweile gibt es den Bildband aber unter anderem Titel auch mit kleinerem Format, Umfang, Preis. “Das DDR-Handbuch” enthält dann immer noch über 800 Seiten im Vierfarbdruck, kostet jedoch nur 30 Euro.
Und natürlich ist es ein hübscher Treppenwitz, dass die halbe Ex-DDR ihre Gebrauchsgegenstände auf den Müll warf und sich mit Westwaren eindeckte, während Amerikaner die Reste durchforstet und in ihr Museum transferiert haben. In Culver City standen einst auch die Hal-Roach-Filmstudios. Wo Stan Laurel und Oliver Hardy einander den Finger ins Gesicht pieksten und sich mit Torten bewarfen, sticht heute DDR-Design ins Auge. Dick und Doof und Die kleinen Strolche und die großen – auch so ließe sich Geschichte erzählen.
Aufmerksam auf den Bildband wurde ich durch den lesenswerten Design-Newsletter Günter Höhnes. Höhne hat mit Exponaten selbst Ausstellungen unterstützt und zeigt auf seiner Website vielfältige Beispiele für DDR-Design.
Verlag Taschen
Das Wende-Museum
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