Cover des BuchsBürgerrechtler und die unzufriedene Bevölkerung haben die DDR untergehen lassen? Nebbich. Laut Wolskis Buch waren es ostdeutsche Agenten des KGB an DDR-Schaltstellen der Macht. Sie hätten zunächst für die Grenzöffnung gesorgt. Und dann aus der SED und den neuen Parteien heraus die DDR hinweggefegt.

Geschichte anders zu erzählen ist spannend. In Robert Harris’ Buch “Vaterland” hat Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen. Auch in der von Amazon produzierten Serie “The Man in the High Castle” sind die Achsenmächte die Sieger und haben die Vereinigten Staaten unter sich aufgeteilt. Martin Cruz-Smith lässt in “Der andere Sieger” Sitting Bull die indianischen Stämme vereinen und mit englischer Hilfe einen eigenen Staat gründen. So weit geht Wolski nicht in seinem Buch. Aber er hat ja auch keinen Roman geschrieben, sondern ein Sachbuch. Das nicht mit einem anderen Ende der Geschichte aufwartet, dafür aber mit einem anderen Weg dorthin.

Und Einigkeit und Recht und KGB
Mauerfall und deutsche Einheit sind bei Wolski nicht Bürgerrechtlern und einem überforderten SED-Bürokraten (“unverzüglich, sofort”) gedankt oder geschuldet. Sondern das Ende eines akribischen Plans sowjetischer Geheimdienste. Seine These: Die Sowjetunion war durch Wettrüsten und kalten Krieg wirtschaftlich am Ende. Sie konnte und wollte sich ihre osteuropäischen Satelliten nicht mehr leisten. Behalten wollte sie aber das Gebiet um Königsberg/Kaliningrad. Dazu nötig war eine abschließende Regelung der deutschen Frage inklusive Mauerfall und Wiedervereinigung. Und eine gütliche Einigung mit den Amerikanern für den Wiedereintritt in die Weltwirtschaft. Die deutsche Einheit ist dabei Resultat einer geheimdienstlichen sowjetischen Operation.

Mit Königsberg waren außenpolitische Komplikationen verbunden, die Wolski ausführlich schildert. Im Hitler-Stalin-Pakt von 1939 mit seinem (bis 1988 von der Sowjetunion geleugneten) geheimen Zusatzprotokoll und dem folgende Grenz- und Freundschaftsvertrag teilten Deutschland und die Sowjetunion Polen und Litauen untereinander auf. Königsberg blieb deutsches Gebiet. Im Ergebnis des Zweiten Weltkriegs fiel das Gebiet um Königsberg dann an die Sowjetunion. Aus Sicht der Westalliierten stand die Stadt allerdings nur unter deren zeitweiliger treuhänderischer Verwaltung. Die Potsdamer Konferenz der Alliieren im Juli/August 1945 fand dafür die Formulierung “vorbehaltlich der endgültigen Bestimmung der territorialen Regelungen bei der Friedensregelung”.

Als die Sowjetunion 1946 das Territorium um Königsberg in ihr Hoheitsgebiet eingliederte, widersprachen die Amerikaner und Briten dieser Entscheidung prompt als Verletzung der Bestimmungen von Potsdam. Deshalb war laut Wolski das Geschick gefragt, die Verträge von 1939 zu annullieren, damit Deutschland keinen Anspruch auf Königsberg erheben kann. Das geschah durch einen Beschluss des Kongresses der Volksdeputierten im Dezember 1989. Und solche Forderungen Deutschlands auch dadurch zu verhindern, dass ein Nachmauerfall-Deutschland die deutsche Einheit für vollendet erklärt und die 2+4-Verhandlungen einen Friedensvertrag ersetzen. Auch dies ist geschehen.

Indizien aneinandergereiht
Dass es durch eine verdeckte Operation sowjetischer Dienste ermöglicht wurde, dafür findet Wolski mit seinem Buch zahlreiche Indizien. Er nennt eigene Erfahrungen aus seinem Berufsleben als Außenhändler, wie das auf- und abschwellende Interesse von US-Konzernen an der DDR. Haben sie frühzeitig von deren Ende gewusst? Wolski nimmt es an. Er beruft sich außerdem auf persönliche Gespräche mit sowjetischen Diplomaten und Militärs. Andere Indizien findet er in öffentlich zugänglichen Dokumenten. Zum Beispiel in den Erinnerungen des sowjetischen Außenministers Schewardnadse, der bereits für 1986 beschrieben habe, die Existenz zweier deutscher Staaten sei eine Anomalie, “die die Sicherheit Europas ernstlich bedrohte”. Man müsse sich Gedanken machen, mit politischen Mitteln eine “gefährliche Unlenkbarkeit der Ereignisse” zu verhindern. Wolski schlussfolgert daraus frühzeitige Geheimabsprachen mit den USA, vermittelt auch durch den nach 1986 mit unklarem Auftrag in Bonn befindlichen Spitzendiplomaten und Deutschland-Kenner Semjonow. Seinen Gegenpart fand dieser dort in Vernon Walters, einem im Regimesturz erprobten US-Diplomaten.

Wolski vermutet flankierende Operationen des sowjetischen Geheimdienstes. Verheimlicht vor den eigenen Militärs, der eigenen Bürokratie und erst recht vor den DDR-Funktionären und der Staatssicherheit. Ihr unmittelbares Ziel: der Mauerfall, um die weiter oben beschriebenen außenpolitschen Ziele zu erreichen.

Zur Belegung seiner Meinung fügt er eine Indizienkette zusammen, in der sich die kurzzeitige Grenzöffnung beim Paneuropäischen Picknick in Ungarn (womöglich von sowjetischen Einflussagenten angeregt) ebenso findet wie die Tatsache, dass Mitarbeiter des letzten DDR-Innenministers Diestel sich diesem gegenüber als Offiziere der Sowjetarmee geoutet haben (nachzulesen in dessen Biografie). Aufhebung des Schießbefehls an der Grenze, Verbot des Einsatzes von Schusswaffen für die Volkspolizei, der Aufbau des Fernsehkrans eines US-Senders bereits am 7. November auf der Westseite des Brandenburger Tors, …

Wolski zitiert einen damaligen Schüler an der Militärpolitischen Hochschule, der ihm berichtet habe, seit Mai 1989 seien die Grenzsoldaten zwar weiter mit MPi, aber ohne Munition ausgerückt. Auch Markus Wolf, der Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung, ist in Wolskis Lesart deshalb frühzeitig in den Ruhestand gegangen, weil er das Gras wachsen gehört hat und nicht mehr politisch düpiert werden wollte.

Auch der Zeitpunkt der nächtlichen Maueröffnung sei kein Zufall. Sondern so gewählt worden, dass die Führung von NVA, Grenztruppen und MfS zeitweilig nicht erreichbar waren. Und die Sowjetarmee durch die traditionelle Kasernierung der Truppen rund um die Feierlichkeiten des Jahrestags der Oktoberrevolution nicht präsent. Wolski vermutet in Maueröffner Schabowski deshalb einen Top-Agenten der Sowjetunion, in dessen Pressekonferenz ein abgekartetes Spiel mit dem Journalisten Riccardo Ehrmann als Stichwortgeber. Er hält Schabowski für einen erfahrenen Pressemann, der um die Bedeutung von Sperrfristen für Nachrichten gewusst haben müsse. Sein weiteres Indiz: Ehrmanns später in einem Interview geäußerte und danach wieder zurückgezogene Bemerkung, er habe seine Frage nach dem Reisegesetz, in deren Folge Schabowski seinen Zettel hervorkramte, auf Wunsch und Anregung einer wichtigen Person gestellt.

So verketten sich in Wolskis Buch die Indizien, bis sie einen schlüssigen Plan nahelegen.

Vergangenheit, Geschichte, Narrative
Vergangenheit bleibt immer unverändert. Und Geschichte ist nur das, was darüber erzählt wird. Von den Siegern, vernehmlicher oft sogar von den Verlierern, siehe Weimarer Republik. Wolski ist bei weitem nicht der Einzige, der offiziellen Erzählungen misstraut. Der Liederpoet Gerhard Gundermann verglich die Vorstellung, dass Bürgerrechtler das System zum Einsturz gebracht hätten, mit dem Glauben eines Jungen, der gegen einen Strommast tritt, während durch einen Zufall gerade zu diesem Zeitpunkt in der ganzen Stadt komplett der Strom ausfällt. Und wer den rustikalen Umgang der Ex-”Freunde” mit den Honeckers in Erinnerung hat, wird ihnen nicht allzu viel Zartgefühl und Rücksichtnahme auf ostdeutsche Befindlichkeiten zutrauen.

Hat die sowjetische Führung frühzeitig überlegt, die deutsche Einheit für außenpolitische Zusicherungen und Geld zu gewähren? Das ist plausibel. Der Mauerfall deshalb eine sowjetische Geheimdienstoperation? Ein mögliches Szenario. Für ein wahrscheinliches halte ich es  nicht. Zum einen aus kleinen Gründen: „Mineralsekretär“ Gorbatschow wirkte wie ein Zögerer und Sucher mit Hang zum Pathos (siehe sein Buch “Perestroika”). Er schien vollauf damit beschäftigt, sich gegen doktrinäre Altkommunisten an der Macht zu halten. Die sowjetische Bürokratie habe ich während meines Studiums in Moskau als schwerfälligen Apparat von Rückversicherern erlebt, die jedes Risiko vermeiden. Landen Top-Spione dann für fast ein Jahr im Gefängnis, immerhin im offenen Vollzug, und fristen danach ihren Unterhalt als Redakteur eines kleinen Wochenblatts? Und hat eine Atommacht so verschnörkelte Pläne überhaupt nötig?

Wichtiger sind womöglich die großen Gründe: Gesellschaft (wie auch Wirtschaft) halte ich für die komplexen adaptiven Systeme, wie sie die Chaostheorie beschreibt. Sie lassen sich langfristig weder prognostizieren noch steuern. Weil ihre unzähligen Akteure ihre unzähligen Aktionen und sich selbst ständig an das sich verändernde Umfeld anpassen, was wiederum das Umfeld verändert. Usw. usf. Oder wie es der Schriftsteller Joseph Heller in “Gut wie Gold” über Regierungspläne schreibt: Nichts gelingt wie geplant.

Wolski hat ein spannendes Buch geschrieben. Dessen Lektüre lässt Ereignisse und Streckenposten des Umbruchs Revue passieren. Sein Geheimdienstszenario ist ein Konjunktiv. Aus Sicht des Rezensenten aber ein Irrealis.


Das Buch ist bei Amazon erschienen, hat 154 Seiten und kostet 9,95.


Weitere Informationen:
Website des Buchs (betrieben vom Autor, mit Leseprobe und Links in von ihm zitierte Dokumente)

 

One Response to Ausgelesen: Michael Wolski, 1989. Mauerfall Berlin. Zufall oder Planung?

  1. Wenn es denn so einfach wäre!

    Blicken wir einfach mal 2000 Jahre zurück! Dass Sieger Geschichte schreiben, ist Standard. Oft wechseln die Sichtweisen sogar innerhalb eines Jahrhunderts mehrfach.

    Wie weit trägt die Erinnerung von Menschen, was taugt ihre Gedächtnisleistung?

    Das getäuschte Gedächtnis
    https://www.youtube.com/watch?v=Wehi2IR2Uzc
    23. September 2016
    Falsche Erinnerungen vor Gericht: Erinnerungen können trügen. Psychologen und Kriminologen wissen: Auf Augenzeugen ist wenig Verlass, auch wenn die in bester Absicht handeln.
    Wissenschaftsdoku im Auftrag von ZDF und 3sat
    (Produktion: Rainer Lecke – Redaktion: Katharina Finger, Nicole Schleider)

    Sind gefälschte Aufzeichnungen etwa zuverlässiger? Texte voller Halbwahrheiten oder Auslassungen sind ebenfalls Standard in den Medien, in den Leitmedien genauso wie in freien Medien!

    Als Familienvater und Ehemann sind mir die Realitäten vertraut, die bereits im Kreis von vier Menschen aufeinanderprallen!

    Nach 66 Lebensjahren habe ich gelernt, meiner inneren Stimme zu trauen, aber auch, meinen Erinnerungen zu misstrauen! Es dürfte hilfreich sein, Machtfragen zu diskutieren, statt nach Wahrheiten zu suchen. Ich habe jedenfalls das Buch von Michael Wolski mit großen Gewinn gelesen, weil mich der 9. November 1989 sehr stark berührt.